Erinnerungen sind die Rosen des Winters

Einige von uns kennen vielleicht den Spruch: „Erinnerungen sind die Rosen des Winters.“

Eine solche Erinnerung meines Herzens möchte ich Ihnen heute kurz erzählen, denn vor 11 Jahren durfte ich den Sonnenaufgang auf dem Berg Sinai erleben. Es war ein Höhepunkt für unsere Israel-Reisegruppe. Von der Herberge bis zum Gipfel lagen dreieinhalb Stunden mühsamen Aufstiegs vor uns. Schweigend gingen wir morgens um 1:30 Uhr los und wollten jenen Ort erreichen, an dem Mose von Gott die Zehn Gebote empfing. Über uns ein abrahamitischer Sternenhimmel mit unfassbar vielen Sternen! – Oben angekommen, warteten wir auf den Sonnenaufgang. Und dann entwickelte sich dieses sensationelle Himmelsspektaktel: Langsam zeichneten sich Gebirgsformationen ab, dann stieg majestätisch die Sonne immer mehr empor. Wir waren überwältigt von dem Ausblick. Was für eine Sicht! Langsam fanden wir unsere Sprache wieder. – Etwas unterhalb des Gipfels feierten wir danach eine Morgenmesse, lasen Texte zum Berg Sinai, lobten und dankten Gott für die Erfahrung seiner Nähe.

In der heutigen Lesung aus dem Kolosserbrief hörten wir die Worte: „In Christus wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare.“ Jesu also der Schöpfer aller Dinge. Zu ihm hin ist die ganze Schöpfung geschaffen. Die ganze Schöpfung ist sein Eigentum und die Existenzberechtigung, ihr Wert und ihre Würde liegen allein in diesem Schöpfungsakt Jesu begründet. Bedenken wir das, wenn wir nachts einmal den Sternenhimmel betrachten? Alles durch Jesus geschaffen. Aber auch die kleine Blume im Wald, die niemand sieht und beachtet – durch Jesus und für Jesus blüht sie. Das Schaffen Jesu endet nicht bei dem Sichtbaren, sondern er schuf auch alles Unsichtbare und belebt auch die Himmel mit unzähligen Geschöpfen und erhält dies alles.

Und im heutigen Evangelium hörten wir, wie dieser Jesus von einem Gesetzeslehrer gefragt wird: „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?“ – Was muss ich tun, um selig zu werden, dass ich in den Himmel komme? Gut, dass der Mann nach dem ewigen Leben fragt! Denn das ist doch wohl das Wichtigste: in den Himmel kommen. Das ist noch wichtiger als unser Überleben hier auf Erden. Anhand dieses Fragers stellen wir fest: Nicht „Hauptsache gesund!“ ist die Devise, sondern „Hauptsache selig!“ Ich wünschte, heutzutage würden viel mehr Menschen ernsthaft nach dem ewigen Leben fragen. Aber die einen denken, mit dem Tod ist sowieso alles aus, und die anderen beruhigen sich mit der trüge­rischen Gewissheit, dass Gott letztlich alle Menschen in den Himmel holen wird. 

Der Mann, der in der Bibel ernsthaft nach Gottes Willen forscht, fragt Jesus also: „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?“ Jesus antwortet zunächst mit einer Gegenfrage: „Was steht denn darüber im Gesetz des Moses, in der Bibel?“ Der Mann kennt die Bibel wirklich gut und kann auf Anhieb das wichtigste göttliche Gebot nennen, das Doppelgebot der Liebe nämlich: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Jesus ist mit der Antwort zufrieden und fügt nur noch hinzu: „Handle danach und du wirst leben.“

So klar und einfach: Nur wer Gott über alles liebt, der kommt in den Himmel. Aber nur derjenige liebt Gott wirklich, der auch seinen Mitmenschen so sehr liebt wie sich selbst. Die beiden Teile vom Doppelgebot der Liebe hängen untrennbar zusammen.

Das Doppelgebot der Liebe sah ich auch verwirklicht im Leben von Lukas, der auf so tragische Weise ums Leben kam. Schüler der Zugspitz-Realschule schrieben über ihn: „Wir schätzen uns glücklich, dass du (Lukas) unsere Gemeinschaft mit deiner guten Laune, deiner Hilfsbereitschaft und Kameradschaftlichkeit, deiner Aufgeschlossenheit und Wissbegierde und besonders mit deinem liebeswerten Wesen bereichert hast. So bleibst du uns in Erinnerung.“

„Erinnerungen sind die Rosen des Winters.“

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist keine harmlose Geschichte, mit der ich mich ein bisschen zum Tun des Guten motivieren kann. Hier geht es um Leben und Tod, um die ewige Seligkeit! Und wenn ich dann frage: „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?“, dann muss ich mit demselben Atemzug fragen: „Was habe ich denn für all die not­leidenden Menschen getan, die mir über meinen bisherigen Lebensweg gelaufen sind?“ Habe ich ihnen geholfen? So, wie ich mir selbst Hilfe gewünscht hätte, wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre?

Habe ich mir nicht nur vor­genommen, meinen Nächsten zu lieben, sondern es wirklich getan? Der Barmherzige Samariter hat’s getan.

In St. Nikolaus zu Murnau war eine Andacht für alle Verstorbenen des Zugunglücks von Burgrain, für deren Angehörige und für alle, die zwar heil, aber mit einem unvorstellbaren Schockerlebnis leben müssen. Für Lukas und die verstorbenen Frauen können wir beten, dass sie in der ewigen Glückseligkeit auf uns warten. Den anderen sollten wir nach dem Beispiel des Barmherzigen Samariters beistehen und sie so gut als möglich auf ihrem weiteren Weg begleiten.

In diesem Jahr hätte Lukas in St. Nikolaus zu Murnau das Sakrament der Firmung empfangen. Gerne bewahre ich ihn als engagierten Ministranten und motivierten Firmbewerber in meiner Erinnerung. Denn Erinnerungen sind die Rosen des Winters.

Amen.