Um das Jahr 217 v. Chr. lebte der griechische Mathematiker Archimedes. Über ihn wird berichtet, dass er eines Tages damit beschäftigt gewesen sei, geometrische Figuren in den Sand zu zeichnen, als die Römer anrückten, um die Stadt Syrakus zu erobern. Archimedes sollte festgesetzt werden. Der war jedoch so in seine Aufgabe versunken, dass er auf das Vorhaben des röm. Soldaten ziemlich barsch reagierte und sagte: „Störe meine Kreise nicht!“ Dies versetzte den Soldaten derartig in Zorn, dass er den alten Mann kurzerhand erschlug.
„Störe meine Kreise nicht.“ Dieser Satz ist sprichwörtlich geworden, nicht nur dann, wenn wir ungestört unseren Aufgaben nachgehen wollen. Dieser Satz ist auch Ausdruck vielfältiger Grenzziehungen, die wir bewusst oder unbewusst täglich vornehmen. So ging es wohl auch den Pharisäern und den Schriftgelehrten im heutigen Evangelium. Sie wollen eine klare Grenze ziehen.
So richten sich 100 Augenpaare auf eine Frau. „Die da!“, beginnen sie mit ihrer Anklage, und verwandeln den Tempelhof in einen Gerichtssaal. „Ehebruch!“, mehr müssen sie nicht sagen, denn die Gesetze sind eindeutig und die Schriften des Moses bekannt.
100 Augenpaare richten sich auf Jesus. Sie legen zentnerschwere Erwartungen auf seine Schultern. Was gilt denn nun? Die Tradition und das Recht, das unsere Gesellschaft zusammenhält? Die alten Worte des Moses oder deine neuen Worte?
100 Augenpaare richten sich auf Jesus. Und Jesus geht in die Knie, taucht ab. Die Frau steht da, zwischen Leben und Tod gestellt, von großer Angst und kleiner Hoffnung erfüllt – die Männer stehen da, siegesgewiss die Hände um die Steine geschlossen. – Und Jesus taucht ab, zieht mit dem Finger feine Furchen in den Sand. Er lenkt die Blicke auf sich. Was er schreibt, ist nicht zu erkennen.
Angespannte Stille – alle warten auf eine Antwort. Doch Jesus schweigt. Und die Männer in den ordentlichen Gewändern lassen nicht locker. „Du weißt, was zu tun ist!“ „Gottes Willen durchsetzen, dafür bist du angetreten.“ „Sag was zu tun ist!“ Und parallel zur Anklageschrift gegen die Frau schreiben sie den Text für Jesus zusammen, Wort für Wort, Zeile für Zeile, Anklagepunkt für Anklagepunkt.
„Also sag uns: Was sollen wir tun?“
100 Augenpaare richten sich auf Jesus. 100 Ohrenpaare erwarten endlich eine Antwort.
„Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie!“
Die Frau schluckt schwer. Damit ist das Urteil klar. Das Steinigen wäre erlaubt.
100 Augenpaare richten sich nach innen.
Und ich? Darf ich? Kann ich? Will ich?
Weniges kann so mächtig sein, wie der Chefankläger des eigenen inneren Gerichtshofes. Und er kennt mich genau. Alle Details sind aufgeschrieben, nichts vergessen.
Die Liste aus eigener Schuld und eigenem Unvermögen. Die kleinen und großen Gaunereien des Alltags. Schwach geworden in den Versuchungen des Lebens. Die Brüche, die sich nur mühsam noch verstecken lassen. Wo das Leben eben nur halb gelungen ist. Wo die eigenen Kinder plötzlich abgebogen sind vom guten Weg.
Die Angst, noch mehr Leute ins Land zu lassen, weil vielleicht doch nicht genug Platz ist. Wo man natürlich die Tausenden betrauert, die am Grund des Mittelmeers liegen. Die eigene Hilflosigkeit erfährt, weil man auch keine schnelle Lösung für die Menschen aus der Ukraine hat.
Die Verletzungen und Kränkungen der vielen Jahre, die einen hart gemacht haben, unempfindlich. Und die dazu verleiten, sich zum Ankläger zu machen und am Scheitern anderer zu berauschen.
Die Worte und Bilder steigen auf, legen sich vor die Augen. Sie wiegen schwer und brauchen die ganze Kraft, die eben noch für die Steine in den Händen da war. – Der Griff lockert sich.
„Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe als Erster einen Stein auf sie!“
Gespenstische Stille macht sich breit, wo sonst das Leben pulsiert.
Wer zuerst zuckt, hat verloren. Selbst der Atem versucht unbemerkt zu bleiben.
Nur einer bewegt sich, zieht mit dem Finger feine Furchen in den Sand des Tempelbodens. Sandkörnchen für Sandkörnchen verlässt seinen Platz. Was über hunderte von Jahren auf dem Boden des Tempels festgetreten und festgelegt wurde, kommt in Bewegung. Neue Spuren werden sichtbar.
Da fällt der erste Stein. Er fliegt nicht. Er wird einfach losgelassen. Stein um Stein gleitet aus den Händen.
Jesus stört mit seinem Wort die Kreise der vermeintlich Frommen seiner Zeit. Zugleich bricht er einen neuen Lebensraum auf für jene Ehebrecherin. Und dank Jesu findet sie zurück ins Leben.
Das Evangelium möchte auch uns den wichtigen Impuls geben, die Grenzziehungen unseres Lebens zu überdenken. Es ist nicht zuletzt die Barmherzigkeit gegenüber sich selbst und gegenüber anderen, die uns für etwas Neues offen sein lässt. Denn die Versuchung ist groß, sich zum Richter über alles und jeden aufzuschwingen und das gefällte Urteil in die breite Öffentlichkeit zu bringen. Es wird uns ja auch sehr leicht gemacht; ein paar Klicks genügen schon.
Die Fastenzeit ist seit jeher eine gute Gelegenheit, bewusst von alten Gewohnheiten Abstand zu gewinnen. Jesus lädt uns gerade in diesen letzten Tagen vor Ostern ein, unseren Lebensweg neu und befreit zu gehen.
Wer ein Gespür dafür hat, wie unzulänglich und fehlerhaft er selbst ist, wird sich ohnehin zurückhalten, die Fehler der anderen hinauszuposaunen. Denn wie sagt der Volksmund so schön: Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung.
Amen.